Kataloniens Kleinstaaterei oder Selbstsuchterei der Großstaaten?

Kleinstaaterei

Ende Juli 2018:

Wenn jemand bzgl. Konflikt zwischen Spanien und Katalonien das Wort “Kleinstaaterei” ausspricht, verwandle ich mich innerlich kurz in Mrs. Hyde. Wenn ich ein vernünftiges Tier wäre, z.B. ein Lama, würde ich der Person ins Gesicht spucken und sie mir danach mit einem fiesen, zufriedenen Lächeln angucken; wenn ich ein Hund wäre, würde ich ihr mit Entzücken ans Bein pinkeln; wenn ich ein Skorpion wäre, würde ich sie mit meinem exquisiten Gift beglücken!
Da ich ein Mensch mit einem starken Sinn für Gerechtigkeit bin, tue ich nix dergleichen. In 99% der Fälle verhalte ich mich friedlich, angemessen und beherzt und fange an, zu erklären…
Gerade aufgrund meines ausgeprägten Sinns für Gerechtigkeit rege ich mich so sehr auf. Die meisten, die “KLEINSTAATEREI” so direkt aussprechen, haben sich entweder nicht tief mit dem Thema beschäftigt oder beziehen ihre Informationen aus der Standard Presse, die meistens die Version Spaniens, der Machthaber im Club der EU Staaten, unreflektiert und fantasielos weiter propagiert.

Ich habe ein paar Reflexionen für uns alle, insbesondere für diejenigen, die “Kleinstaaterei” selbstgerecht rufen:

  • Was ist so empfehlenswert an Großmächte und Großstaaterei? Wer ist verantwortlich für große Kriege, große Umweltzerstörung, große soziale Kluft auf der Welt wenn nicht gerade die Großmächte? Möchten wir eine uniforme, graue Gesellschaft ohne kulturelle Vielfalt? Wo bleibt die Agilität und innovationspotential der lokalen Selbstorganisation? Wo bleiben die Menschen mit ihren Sehnsüchten, Sprachen, Dialekten, kulturellem Reichtum und Zivilrechten? Wo bleibt eigentlich wahre Demokratie, bzw. Res Publica, also die Menschen?
  • Katalonien hat 7,6 Millionen Einwohner. Sind 7+ Millionen Einwohner so klein für ein gut funktionierendes, zufriedenes und selbstbestimmtes Land innerhalb eines vereinten Europas als Bund? Statistisch geht es den kleineren Europäischen Ländern besser als den Großen. Verwaltungen in kleineren Einheiten sind näher am Bürger und damit steigt auch meistens die Effektivität und Zufriedenheit.
  • Luxemburg, beispielsweise, hat knapp über 600000 Einwohner in einer 2.586,4 km² Fläche. Griechenland hat ca. 11 Millionen Einwohner. Sollen wir der EU Kommission vorschlagen, alle EU Länder unter, sagen wir, 12 Millionen Einwohnern zusammenzuführen? Österreich könnten wir an Deutschland wieder anschließen. Fällt ja mit knapp 9 Mio Einwohnern nur etwas größer als Katalonien aus. Dänemark kriegt wer? Und die Balten führen wir wieder zusammen als Was? Slowenien zwangsfusionieren wir mit Kroatien, Kosovo und Mazedonien zu Teil-Jugoslawien? Ups, nein, die hat man mit Unterstützung der EU ja erst abgespalten…
  • Warum haben Luxemburg, Monaco, Österreich, Denmark, Belgien, Niederlande, Slovenien, etc. das Recht, zu existieren aber Katalonien als Staat wäre undenkbar? Vielleicht weil die anderen “seit Jahren da sind und ich habe mich daran gewöhnt”, egal, ob einige davon ihre aktuelle Macht über anderen Nationen durch Kriege und Diktatur erobert haben? Oder eher weil Wandel in einem dynamischen Europa anstrengend für meine eigenen Interessen ist, auch wenn es mittelfristig positiv werden könnte?
  • Wenn Katalonien weg von Spanien geht, was wird mit meinem Strandurlaub oder meinen Investments passieren !? Oder wäre es im Gegenteil denkbar, dass ein zufriedenes Katalonien außerhalb Spaniens zu einem stabileren Europa beitragen würde?
  • Wieso kritisieren wir so selbstbewusst die Repression, Zensur, Mangel Unabhängigkeit der Justiz, Mangel Freiheit und Demokratie in Ländern wie z.B. Polen, Türkei, China aber schauen wir schnell weg, wenn es um Spanien geht und Katalonien trifft?
  • Wieso äussern wir uns abwertend gegenüber der Sehnsüchte der KatalanInnen, die eine bessere, sozialere Gesellschaft außerhalb Spaniens und innerhalb eines anderes Bundes, z.B. Europa, aufbauen wollen? Sie haben einen legitimen Grund: Seit Jahrzehnten ersticken sie in einem korrupten, zentralistischen, uniformisierenden Spanien und fühlen sich nicht respektiert und nicht gerecht behandelt. Wie würden WIR uns in IHRER Lage fühlen?
  • Katalonien hat seit Jahrzehnten immer wieder versucht, eine gute Lösung innerhalb des zentralistischen Spaniens zu finden, sich kompromissbereit gezeigt und meistens vernünftige Forderungen ausgesprochen, die anderen Regionen Spaniens genehmigt worden sind, z.B. Andalusien. Spanien hat immer wieder ablehnend und arrogant gegenüber Kataloniens Wünsche reagiert, das letzte berühmte Mal im 2010. Welche vernünftige Gründe hat Katalonien, Spanien wieder zu vertrauen? Ist es nicht anmaßend, den KatalanInnen als Aussenstehender zu sagen “Ich verstehe Dich, Katalonien, aber die Trennung von Spanien ist nicht die Lösung. Ich weiß es besser!”?
  • Wie können wir gemeinsam ein besseres, stabiles, vereintes Europa aufbauen? Mit Großstaaten, die tendenziell mit sich selbst und ihren selbstsüchtigen Interessen beschäftigt sind? Oder eher mit einem regionaler geprägten, Menschenorientierten Bund an Ländern unterschiedlicher Größen, die engagiert und motiviert für der Erfolg des gemeinsamen EU Bundes arbeiten? Katalonien möchte eins dieser engagierten Länder werden.
  • Wie wäre es z.B. mit der Vision einer Europa Republik als Bund der Regionen unterschiedlicher Größen? Siehe Artikel von Ulrike Guérot und Robert Menasse als Einleitung dazu: Europa ist ein dynamisches Projekt und natürlich ist die Region

Danke für Euer Feedback bisher, u.a. von Ralf Streck und unserer hübschen, internationalen Republikanischen Twitter Community.

8 thoughts

  1. Dieser Text ist nichts anderes als mein eigenes Kommentar nach einem im Februar 2018 von Prof. Axel Schönberger gehaltenen Vortrag in Frankfurt am Main, sowie die Reaktion desselbigen darauf. Ganz die Creation der Verfasserin dagegen ist die Stelle, wo sie schreibt, dass sie “ein Mensch mit einem starken Sinn für Gerechtigkeit” sei. Mercè Galobart

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    • Liebe Mercè,
      ich war überrascht, als ich Deinen Kommentar über mein Blog https://gemmadurany.com/portfolio/kataloniens-kleinstaaterei-oder-europa-selbstsuchterei/ zu Ende gelesen habe. Als ich Deinen Name als Verfasserin des Kommentars gesehen habe, habe ich mich zuerst gefreut, weil wir beide eine ähnliche politische Vision haben. Ich dachte, du wolltest mir gratulieren.

      Ich war tatsächlich beim sehr guten Vortrag von Prof. Dr. Schönberger in Frankfurt dabei. Soweit ich mich erinnere, hast du ihn so was gefragt wie
      „Wie sollten wir mit der ständigen Anschuldigung umgehen, dass wir, Katalaninnen, Europa “in die Kleinstaaterei stürzen”?“
      Er hat eine Antwort gegeben, mit der ich mich sehr identifizieren kann, u.a. weil ich diesen Gedanken 100 Mal selber gedacht habe. Er kann es vielleicht besser und selbstbewusster formulieren aber sein Gedanke war mir nicht neu.
      Er sagte so was wie “Großnationen verdienen nicht gerade den Nobelpreis für Ethik, bzw. im Namen der Großnationen baut man ständig eine Menge Mist.“
      Mehr über die Kleinstaaterei wurde im Vortrag nicht debattiert, u.a. weil das Thema des Vortrages eher ein anderes war. Deine Fragen gingen auch nicht darüber hinaus. Soweit ich weiß, hast du selber keinen Artikel oder Text zum Thema “Kleinstaaterei” geschrieben. Falls ich mich irre, werde ich mich freuen, Deinen Artikel zu lesen und bei meinem Blog zu verlinken.

      Ich beschäftige mich mit dem Vorwurf der “Kleinstaaterei” seit vielen Jahren, genauso wie du und viele andere Katalaninnen in Deutschland. Kein Wunder, dass man parallel auf ähnliche Gedanken kommt. Ideen sind nicht statisch. Sie werden weiter entwickelt, indem man sie mit anderen Menschen teilt und debattiert. Am Ende meines Blogs habe ich erwähnt, dass ich dieses Thema mit mehreren Menschen debattiert und Feedback gekriegt habe.
      Ich empfehle Dir, kritisch mit Deinem eigenen Feedback umzugehen.
      Mit freundlichen Grüßen
      Gemma

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    • Hier scheint es sich um eine persönliche Animosität zu handeln. Bedauerlich, dass diese in eine Diskussion über ein Thema hinein getragen wurde, das die Katalonienfrage angeht.
      Das dient der Sache nicht.
      Zudem geht der Text im Blog um Einiges darüber hinaus, was in der Diskussion zu besagtem Vortrag gesagt wurde.
      Ich finde, er stellt eine gute Übersicht über die möglichen Repliken zu diesem ewigen (im Übrigen ‘typisch deutschen’*) Einwand dar.

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  2. Gemma, ich finde dein Blog sowie auch deine lustigen Zeichnungen sehr gut, und das habe ich dir auch mal gesagt. Stellen wir uns ein Model vor, das von sich selbst sagt “ich bin ein wunderschöner Mensch”, oder ein Physik-Nobelpreis von sich selbst sagend “ich bin ein überdurchnittlich intelligenter Mensch” – irgendwie passt das nicht und sie würden mit solchen Aussagen ein großes Stück zunichte machen an den positiven Eigenschaften, die sie sonst auszeichnen. Analog dazu finde ich, dass Aussagen wie “ich bin ein Mensch mit einem starken Sinn für Gerechtigkeit” sich sehr negativ auf unsere Sache auswirken, wo man uns Katalanen seit ich denken kann sowieso dauernd vorwirft, wir seien eingebildet und würden uns für was Besseres halten. Schade! — Jetzt mit dem Ukrainen-Konflikt traut sich in Deutschland sowieso niemand mehr etwas über “Kleinstaaterei” zu sagen, wenn das Katalonien-Thema angesprochen wird, schon gemerkt? Und was Prof. Schönberger damals eigentlich als Gag hinsichtlich rhetorische Werkzeuge vorschlug, wenn wieder einer unbedacht meint, er wolle nicht in einer Welt mit “Kleinstaaterei” leben, ist jetzt mit dem Konflikt Ukraine-Russland traurigerweise nicht mehr notwendig…

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